Lieber Jeremias,
wo wird mich dieses Briefescheiben hinführen? Macht das ganze eigentlich Sinn? Wird es Dich interessieren? Möchtest Du dies alles wissen, oder möchtest Du die Geschichte nicht einfach ruhen lassen, vergessen, verschweigen? Ich weiß es nicht, kann es nicht wissen, solange ich nicht frage. Dazu kann ich mich aber im Augenblick noch nicht durchringen. Egal, ich schreibe einfach weiter. Es wird Deine Entscheidung sein, ob Du die Briefe eines Tages liest oder nicht. Und wie auch immer Du Dich entscheidest – es wird gut sein. Bis dahin grabe ich noch etwas im Rucksack und schaue, was sich so alles darin befindet.
Als ich mit dem Auspacken des Rucksackes begann fürchtete ich ja, dass alles, was ich zu Tage fördern würde irgendwie schmerzhaft sein würde. Aber, siehe da, es gibt doch auch funkelende Edelsteine darin. Einer ist mir gerade heute ins Auge gefallen und ich möchte Dir diese Geschichte nicht vorenthalten. Ich liebe die Erinnerung daran noch heute und sie zaubert mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht – naja, manchmal lache ich auch lauthals.
Du warst noch keine zwei Jahre alt als Du Dir die Windpocken eingefangen hattest. Häufig wird gesagt, je früher man diesen nervigen Biestern begegnet, desto besser, denn desto harmloser die Auswirkungen. Zumindest für Dich stimmte das auch. Wir zählten etwa zwanzig kleine Pöckchen an deinem ganzen Körper. Es ging Dir auch allgemein gut, kein Fieber oder andere Beschwerden traten auf. Wenn diese Mini-Dinger nicht so gejuckt hätten, hätten wir das ganze vielleicht sogar für Mückenstiche gehalten. Wenn das auch für die Jahreszeit sehr unüblich gewesen wäre. Aber wer weiß schon, was für Kroppzeug so allgemein unterwegs ist.
Da waren also diese Bläschen, die offensichtlich ziemlich unangenehm juckten. Der Kinderarzt versorgte uns dankbarerweise mit einem Mittelchen, das den Juckreiz abmildern sollte. Du sahst ziemlich lustig aus mit den weißen Flecken, die diese Lotion auf der Haut hinterließ. Irgendwie war es schon fast eine Kriegsbemalung. Ich erinnere mich, dass Du zudem von irgendwem Regenkleidung im Stil eines grünen Frosches bekommen hattest. Wir steckten Dich also in ein Froschgewand aus Plastik und fanden Dich sehr süß. Die lustigen weißen Flecken im Gesicht taten ihr übriges, um uns zum Lachen zu bringen. Ich gebe zu, Du fandest das gar nicht so witzig. Die Windpocken juckten und das Froschkostüm mochtest Du auch nicht. Auf dem einzigen Bild, das wir davon haben, musst Du Dich sehr bemüht haben, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sehr unglücklich siehst Du darauf nicht aus. Vielleicht liegt es daran, dass kein weißer Lotionsfleck darauf zu sehen ist. Gutes Aussehen war Dir tatsächlich schon immer wichtig. Naja, egal. Darum geht es gerade gewiss nicht.
Du warst wirklich noch ziemlich klein und mit dem Sprechen war das so eine Sache. Im Vergleich zu anderen Kindern zeigtest Du schon in diesem Alter eine große Begabung für Worte und Sätze. Dennoch gab es Wörter, die Dir in ihrer Aussprache schwer fielen. Windpocken war eines von ihnen. So oft Du auch versuchtest, das Wort auszusprechen, es kam doch immer nur ‚Pinhocke‘ heraus. Auch heute noch spreche ich von Pinhocken, wenn die Sprache auf Windpocken kommt.
Wahrscheinlich fragst Du Dich gerade, was an all dem nun so lustig sein soll. Das Froschkostüm, die weißen Flecken, das Wort Pinhocke oder alles zusammen? Nichts davon und irgendwie alles davon. Vor allem jedoch das, was danach geschah. Deine Windpocken waren längst verheilt, doch sie müssen großen Eindruck auf Dich gemacht haben. Dies wurde offensichtlich, als wir – wie so oft in dieser Zeit – meine Freundin Christiane zu Besuch hatten. Wie immer saßen wir am Küchentisch und redeten stundenlang über ihre diversen Lebensprobleme. Davon hatte sie viele und diese zu durchleuchten dauerte Stunden. Stunden in denen die Zeit für Dich oft fehlte. Dennoch warst Du eigentlich immer um uns herum. An diesem Abend saßt Du am Tisch und hörtest zu. Mir fiel tatsächlich auf, wie Du Christiane über lange Zeit eingängig beobachtetest und eigentlich keinen Ton von Dir gabst. Irgendwann wackeltest Du zu ihr, klettertest auf den Stuhl neben ihr, strecktest Deinen Zeigefinger aus und stupstest sie an ihrem Kinn. Erinnerst Du Dich? Am unteren Ende ihrer rechten (oder war es die linke?), Kinnseite hatte Christiane eine große Warze, die sie schon immer gestört hatte. Sie fühle sich wie eine Hexe damit, sagte sie oft. Und dann kamst Du mit deiner kindlichen Unschuld, tipptest mitten auf diese Warze und voller mitfühlender Inbrunst fragtest Du: „Hast Du auch eine Pinhocke?“ Du erinnertest Dich an das unangenehme Jucken und die weiße Lotion. Die arme Christiane tat Dir leid.
Ich brach in schallendes Gelächter aus. Christiane war entsetzt. Da hatte doch dieses fürchterliche Kind – Du – sie auf ihren einzigen Makel angesprochen. Sie war fuchsteufelswild. Noch nie hatte sie jemand so sehr gekränkt. Ich weiß nicht, was sie mehr kränkte, Dein Mitgefühl ob der Pinhocke oder mein Lachen. Ich weiß noch, dass ich mich nicht mehr beruhigen konnte. Im Nachgang finde ich das Ganze so bezeichnend. Da saß eine Frau im besten Alter, erwachsen und ach so selbstbewusst. Es gab nur diesen einen Makel an ihr, und ausgerechnet den findest Du. Ich musste mir einen Vortrag anhören: Warum ich Dich nicht besser erzogen hatte. So etwas machte man doch nicht. Man machte doch andere Leute nicht auf ihre Makel aufmerksam. Als hätte ich Dich gebrieft… Sie wollte partout nicht verstehen, dass Du einfach Mitgefühl zeigtest. Und ich konnte meine Belustigung schlicht nicht verstecken. Kindermund tut Wahrheit kund! sagt der Volksmund so gern. Tja, auch wenn Du mit den Windpocken daneben lagst, hast Du ihr doch einen Spiegel vorgehalten. Den Spiegel ihrer Eitelkeit.
Wie verletzt sie sich fühlte, und wie sehr Du und ich sie in ihrer Eitelkeit gekränkt hatten, sollte ich beim nächsten Besuch sehen. Denn sie hatte, halt Dich fest, die Pinhocke vor dem nächsten Besuch chirurgisch entfernen lassen. Nie wieder sollte jemand ihren einzigen Makel kritisieren oder sich über ihn lustig machen können.
Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, dass ich diese ganze Geschichte noch heute so unglaublich lustig finde? Ich weiß nicht. Ich bin Dir immer noch dankbar. Nicht nur für den Lacher, sondern auch, dass Du so viel Mitgefühl gezeigt hast. Du wolltest Verständnis zeigen, ihr mitteilen, dass Du weißt wie nervig das ist. Sie fühlte sich in ihrer Eitelkeit gekränkt und sah Dich und Dein Gefühl gar nicht. Sie sah nur sich selbst. Schade. Doch für mich war es gut. Es zeigte mir, wie großartig unsere Kinder sind, wie mitfühlend und liebevoll. Und auch, wie oft wir Erwachsenen in unserer Hybris an unserer so aufgeblasenen Eitelkeit leiden und wie fixiert wir oft auf unsere Makel sind. Und die Kinder? Sie sehen nicht den Makel, aber vielleicht sehen sie die Not, die wir oft damit haben und versuchen diese zu lindern. Ich hoffe, Du hast Dir ein Stück davon behalten. So wie ich Dich über die Jahre kennengelernt habe, bin ich da ganz sicher.