Die Atmung ist wohl die am meisten unterschätzte Funktion unseres vegetativen Nervensystems. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass dies ganz sicher für viele Menschen der westlichen Hemisphäre unserer Erde gilt. Bis ins Jahr 2020 hat sich wohl kaum einer über das Atmen wirklich Gedanken gemacht. Naja, es mag Ausnahmen geben. Ich war auch schon vor 2020 eine davon. Aber für die Mehrheit der Bevölkerung gilt, dass sie sich selten bis nie Gedanken über diese Körperfunktion machen, die da Tag und Nacht völlig automatisch abläuft und sie am Leben erhält. Atmen passiert einfach. Man muss es nicht ständig aktiv erhalten, damit es funktioniert. Selbst wenn wir erkältet sind und das Atmen durch geschwollene Schleimhäute in der Nase schwierig bis unmöglich wird, nehmen wir nicht wirklich wahr, wie essentiell dieser Mechanismus für uns ist. Entweder öffnen wir den Mund und atmen darüber ein und aus, oder wir versuchen die Nasenschleimhaut mit abschwellenden Medikamenten wie Sprays und Tropfen wieder in ihren unblockierten Normalzustand zu versetzen. Es gibt nicht viele Menschen, die darüber hinaus der Atmung besondere Aufmerksamkeit schenken.
Diese Tatsachen sind der Grund, warum viele Menschen gar nicht wissen, wie man richtig atmet. Wer denkt schon darüber nach, dass man diesen Automatismus richtig und falsch machen kann?
Das es sowas wie ‚falsches‘ Atmen gibt, erfuhr ich aus einem Buch. In diesem beschrieb ein Yogi die Begegnung mit einem Schüler, der ihn als sozusagen letzte Hoffnung auf Besserung seines Zustandes aufsuchte. Dieser Schüler wurde von seinem Arzt an den Yogi verwiesen. Er war stark übergewichtig und hatte massive gesundheitliche Probleme aufgrund des Gewichts. Weil kein Sport möglich, eine Gewichtsreduktion jedoch unumgänglich war, schien Yoga der einzige Ansatz und Ausweg. Der Mann erschien in der Yogaschule und der Yogi bat ihn, sich einfach lang auf eine Matte zu legen und zu atmen. Entsetzt stellte der Yogi fest, dass er bei seinem neuen Schüler keinerlei Brustkorb- und Bauchbewegung sehen konnte. Er legte sein Ohr nah an den Mund des Mannes. Jedoch konnte er auch hier keine Atemgeräusche wahrnehmen. Dennoch lebte der Mann. Der Yogi hatte so etwas noch nie erlebt. Dieser Mann atmete so flach, dass es von außen so aussah, als würde er gar nicht mehr atmen. Der Yogalehrer entschloss sich, diesem Mann zunächst zu lehren, wie man richtig atmet. Der Schüler lernte schnell und das Wunder geschah. Nicht nur begann der Mann wieder zu atmen, sein Gesundheitszustand verbesserte sich und er verlor rasant an Gewicht. Richtiges Atmen kann also Leben retten, während falsches Atmen das Leben sogar verkürzen kann und mit enormen körperlichen Störungen einher gehen kann.
Natürlich kann ich diese Geschichte nicht verifizieren. Ich habe nur das Buch gelesen, den Yogi jedoch nie kennengelernt. Aber warum sollte er hier die Unwahrheit geschrieben haben? Für mich machte diese Geschichte damals auch sofort Sinn. Immerhin hatte ich gelernt, richtig zu atmen. Ich war etwa 16 und sang für mein Leben gern. Leider war meine Stimme im Vergleich zu anderen immer etwas dünn. Doch dann lernte ich Tamara kennen. Sie nahm Gesangsunterricht bei einem ausgebildeten Opernsänger. Wir verstanden uns gut und sangen nicht nur im Chor gemeinsam, sondern auch in unserer Freizeit. Eines Tages beobachtet sie mich, wie ich mich zum wiederholten Mal mit einer Passage von Shut de door abmühte. Irgendwie reichte die Luft nie, um die Passage zu Ende zu singen. Ich war frustriert. Plötzlich stand Tamara neben mir, grinste und packte meinen unteren Brustkorb und sagte: „Da musst du hin atmen und von da die Luft holen. Dann klappt es.“ Ich starrte sie an. Was sollte ich tun? Von Zwerchfellatmung hatte ich noch nie etwas gehört. Sie zeigte es mir, übte mit mir, bis ich verstand, wie das Atmen geht, und siehe da, ich konnte die Passage eine Stunde später mit Leichtigkeit singen. Und auch meine Stimme klang voller.
Aus mir ist zwar keine Sängerin geworden, aber dass ich heute richtig atmen kann, habe ich vor allem Tamara zu verdanken, die ihr Wissen so bereitwillig an mich weitergab. Die Zwerchfellatmung und das Wissen, dass es so etwas wie bewusstes Atmen in verschiedene Regionen des Körpers überhaupt gab, half mir Jahre später auch beim Yoga. Während viele mit der Technik der 4-7-8 Atmung (eine Form des yogischen Pranamaya) so ihre Schwierigkeiten hatten, war es für mich kein Problem, auch die längsten Atemintervalle zu meistern. Man atmet hier in Intervallen von 4 bis 8 Sekunden zunächst ein, hält dann den Atem genauso lange an, atmet im gleichen Intervall aus und lässt dann die Lunge für die gleiche Zeit leer, bis man mit dem nächst höheren Intervall wieder einatmet. Diese Form der Atmung hat mir nicht nur dabei geholfen, eine tiefere Verbindung zwischen mir und meinem Körper herzustellen, sie hilft mir auch in alltäglichen Stresssituationen die Ruhe zu behalten. Zumindest, wenn ich daran denke, sie anzuwenden.
Nach und nach lernte ich noch mehr Formen des Atmens durch meine Yogapraxis. Da gibt es zum einen die Wechselatmung. Bei der Wechselatmung hält man sich abwechselnd ein Nasenloch zu und atmet durch nur eines ein bzw. aus. Mit dem Daumen hält man sich das rechte Nasenloch zu und atmet durch das linke tief ein. Sind die Lungen gefüllt, verschließt man das linke Nasenloch mit dem Ringfinger und hält den Atem kurz an. Wer mag und kann setzt zusätzlich noch ein Mula Bandha, sprich spannt den Beckenboden an. Dann wird das rechte Nasenloch für die Ausatmung freigegeben. Die Atemrunde beginnt von Neuem. Die Wechselatmung ist eine hervorragende Technik um Stress zu lösen, sie hilft beim Einschlafen, kann aber auch einen Energiekick tagsüber geben. Dies funktioniert, weil diese Atem Technik sowohl den Sympathikus als auch den Parasympathikus aktiviert und dadurch das gesamte System des Körpers ausgleicht und in Balance bringt. Ich empfehle diese Atmung immer wieder, wenn ich Menschen in einem Zustand des Ungleichgewichts gleich welcher Art antreffe. Sie funktioniert immer.
Neben der Feueratmung, die mir durch ihre Schnelligkeit und Heftigkeit noch heute Schwindel bereitet, schätze ich vor allem Ujjayi. Diese Form wird auch Ozean-Atmung genannt, da man beim Ausatmen ein Rauschen in der Kehle erzeugt. Ich nenne das auch Darth-Vader-Atmung. Ich kann gar nicht sagen, wie dämlich ich mir am Anfang dieser Praxis vorkam. Da stand ich also und verschloss meine Kehle, um diese Geräusche, die mich um den Verstand bringen, wenn ich sie aus der E-Zigarette meines Mannes höre, und produzierte ein Röcheln beim Ausatmen. Lange habe ich mich geweigert, diese Atmung anzuwenden. Doch dann überwand ich mich eines Tages und bemerkte, dass mir diese Atmung half, all meine Konzentration zu bündeln. Viele Asanas, die zuvor unmöglich schienen, gelangen plötzlich, und kräftemäßig schien ich geradezu über mich selbst hinauszuwachsen. Was für eine Offenbarung! Erst durch diese Erfahrung schaffte ich es, meine Scham wirklich abzulegen und atmete frei darauf los. Heute überlege ich nicht mehr lange. Die Atmung setzt von allein ein, wenn ich sie brauche.
Singen und Yoga haben mir also eine Menge über das Atmen gelehrt. Ich habe eine Bewusstheit zu meinem Atem und so auch zu meinem Leben gelernt, die mich dankbar macht. Dankbar für dieses Geschenk, das mein Leben erhält, ohne dass ich viel dazu beitragen muss, aber kann, wann immer ich will. Die Kraft des Atems lässt sich so vielfältig einsetzen, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals wieder wirklich flach zu atmen. Mein Atem ist beständig tief und ich fülle meine Lunge immer voll und genieße das Heben und Senken meines Brustkorbs und der Bauchdecke, zeigt es mir doch, dass ich zutiefst lebendig bin. An dieser Stelle möchte ich sogar dafür plädieren, das Decart’sche Zitat ‚Cogito ergo sum‘ zu erweitern. Ich möchte diesem voranstellen: Spiro ergo sum, womit mir ungefähr bei dieser Aussage landen: Spiro ergo sum. Quod spiro ergo cogito. Cogito ergo humanus/a sum. Mein Latein ist schon etwas eingerostet, man möge mir also grammatikalische Imperfektion verzeihen.
Eine tiefe Zwerchfellatmung ist mir also inhärent geworden, ein Teil von mir, untrennbar in meinem Sein verankert. Ich denke darüber gar nicht mehr nach.
Dann kam das Jahr 2020, und mit ihm die tiefgreifenden Veränderungen, die unsere Gesellschaften weltweit so nachhaltig verwandelt haben. Das Virus ging um. Ein Virus, das, wie uns die Wissenschaft bis heute glaubhaft versichern möchte, durch die Luft übertragen wird. Ein Virus, gegen das wir keine Gegenwehr haben, da es so neu ist, wie ein Baby beim ersten Atemzug. Eine neue Spezies sozusagen. So bösartig und aggressiv, dass es sich aufmachte, die menschliche Rasse auszurotten, wenn wir nicht aufpassten und das Eindringen diese Widerlings in unsere Atemwege mit allerart Vorrichtungen verhinderten. Zu Beginn hängten wir uns alle Stoffmasken ins Gesicht. Viele nähten sie selbst. Und irgendwie, war das Ganze aufregend, bunt und schon ein bisschen cool. Auch ein Schal in den Lieblingsfarben war ausreichend. Aber das Virus war schlau und veränderte sich. Stoffe hielten es nicht auf in seiner mutationsfreudigen und tückischen Todesmission. Also wichen die Stoffprotektoren zunächst medizinischen Operationssaalmasken und später halfen nur noch FFP2 Masken. Weil das Virus aber gut lesen kann, und auf jeder Packung dieser, nun überall zu kaufenden Schutzwerkzeugen die Information prangte, dass sie nicht vor Viren schützen können, nahm das Drama seinen Lauf. Schon konnte man Menschen mit zwei oder drei dieser Gesichtsverhüllungen auf den Straßen, in den Läden und Büros antreffen. Nur helfen wollte nichts davon.
Auch ich sah mich mit der Drohung eines Ablebens vor meiner Zeit konfrontiert. Dabei fing mein Leben gerade an Sinn zu haben, mir Freude zu bereiten. Bereitwillig unterwarf ich mich also der Notwendigkeit der Schutzmaßnahme Gesichtsverhüllung zur Atemwegsrettung – meiner und der aller anderer. Ich wusste ja besser als viele, wie wichtig der Atem für unsere Lebendigkeit war. Doch relativ schnell sah ich mich einem Problem gegenüber, das mich in eine Zwickmühle brachte. Ich bemerkte, dass sich mein Atem veränderte, hing ich mir welchen Schutz auch immer ins Gesicht. Zuerst dachte ich, es läge an der Art des Schutzes, der da über meiner Nase klebte, mir die Lunge blockierte. (Und so ganz nebenbei kann das sogar wahr sein. Da ich aber kein Spezialist für Atemschutzmasken bin, mag ich dazu keine weiteren Aussagen treffen.) Doch dann stellte ich fest, dass sich mein Brustkorb nicht mehr in dem Maße hob und senkte, wie ich das ohne Blockade kannte. Ich atmete flach. Etwas, das ich seit Jahren nicht getan hatte. Nun erst merkte ich, wie sehr eine tiefe Atmung meine Lebensqualität positiv beeinflusst hatte. Natürlich versuchte ich, meine Atmung wieder tiefer werden zu lassen. Erfolglos. Denn eine tiefe Zwerchfellatmung mit Maske vor Nase und Mund hatte zur Folge, dass ich Schwindelanfälle hatte. Panikattacken stellten sich ein. Ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, zu ersticken. Obendrein bekam ich Nasenbluten. Eine Erfahrung, die ich einfach noch niemals zuvor gemacht hatte. Meine Nase war ständig blutig verklebt und immer wieder flossen dünne Ströme des roten Saftes aus beiden Nasenlöchern. Ich war geschockt und verängstigt und fragte mich, warum ich solch merkwürdige Komplikationen hatte, während andere durch all diese Schutzvorrichtungen offenbar keine Schwierigkeiten erfuhren. Ich verzichtete, häufig genug mit Herzklopfen – denn es war ja gefährlich für mich, und ich eine Gefahr für andere – so oft es ging auf die Maske. Jedes Mal trat eine sofortige Besserung meiner Probleme ein. Ich war hin und her gerissen. Trage ich die Maske und riskiere meinen Tod oder, noch schlimmer, den Tod eines anderen, oder verzichte ich darauf und fühle mich besser?
Ich begann meine Mitmenschen zu fragen, wie es ihnen damit ginge. Ich wollte so gern jemanden finden, dem es wie mir ging. Doch keiner sah sich ähnlichen Schwierigkeiten gegenüber. Ja sicher, toll fand keiner so ein Ding, aber ein Problem ist es nicht. Wenn ich damit ein Thema hätte, wäre es wohl eher psychischer Natur. Ich solle mich nicht so hineinsteigern, dann würde ich mich schon daran gewöhnen. Ich gewöhnte mich nicht daran. Und plötzlich wurde es mir klar. All diese Menschen, die so gar keine Schwierigkeiten mit der plötzlichen Blockade ihres Atemsystems hatten, hatten in ihrem Leben einfach noch nie richtig geatmet. Mir fiel die Geschichte des Yogis und seines Schülers wieder ein. Das war die einzige Erklärung. Eine flache Atmung ist tatsächlich weit verbreitet. Wer hat schon das Glück über das Singen oder Yoga-Atemtechniken über das richtige Atmen Wissen erlangt zu haben? Selbst Menschen, die Yoga als Sport oder zur Entspannung praktizierten, setzen sich häufig nicht mit der Atmung auseinander. Ich dachte an meine eigenen Gründe, mich etwas dämlich zu fühlen, wenn wieder einmal eine Atemtechnik auf dem Plan stand. Wer sich beim Yoga wirklich hingibt, kommt sehr schnell an eine Punkt, an dem er sich nicht nur körperlich bewegt, sondern sich auch mit den dem Yoga inhärenten mental-spirituellen Themen auseinandersetzt. Das ist für viele ein Terrain, auf das sie sich gar nicht erst begeben wollen. Und so ist es auch sehr angesagt, Yoga ohne Bullshit zu praktizieren, d. h. Yoga ohne den geistigen Hintergrund, rein auf das Körperliche bezogen. Und wer dies alles nicht kennt, nicht weiß und nie gelebt hat, der mag tatsächlich noch nie richtig geatmet haben. Jene, die davon allerdings noch niemals etwas gehört haben, atmen zum großen Teil prinzipiell zu flach. Und das ist wohl eine überwiegende Mehrheit.
Und so kann es auch passieren, dass Menschen, die noch niemals richtig geatmet haben, auch kein Problem damit haben, aus Angst vor dem Tod das Leben zu vergessen.