Wir wären alle gern Frederick gewesen
Wie ein Kinderbuch uns Gleichwertigkeit lehrt und uns dazu aufruft, Träume nicht für Sicherheit zu verraten
Vor etwa einem Jahr erreichte mich ein Anruf eines ehemaligen Schülers. Ich hatte gerade meinen Arbeitsvertrag an der Schule, an der ich auch ihn kennengelernt hatte, beendet und bereitete mich auf meinen neuen Wirkkreis an einer freien Schule vor. Ich verbrachte dazu einige Tage im Odenwald, um mich auch an die neue Umgebung gewöhnen zu können, in der ich ab dem neuen Schuljahr meine Zeit verbringen würde. Es war wieder einer jener Zufälle, die einem am Ende wohl nicht ganz so zufällig zufallen, dass mich der junge Mann gerade zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort erreichte. Gerade hatte sich ein achtjähriges Lebenskapitel geschlossen und ein neues sollte sich öffnen. Wohl eher nicht zufällig hatte sich auch im Leben meines ehemaligen Schülers gerade ein neues Kapitel geöffnet. So krähte es fröhlich durch den Hörer: Frau R., stellen Sie sich vor, ich bin jetzt auch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft! Ich habe nun einen Ausbildungsplatz im Hotelfach! Nun, das waren ja tolle Neuigkeiten, denn Zlatan hatte die Schule ohne bestandenes Abitur verlassen. Wie genau seine Qualifizierung am Ende seiner Schulzeit genau aussah, weiß ich bis heute nicht. Ich habe nicht danach gefragt, und er hat es mir bis heute nicht erzählt. Wohl weil es gar nicht so wichtig ist - was das Gros der Gesellschaft sich übrigens bis heute weigert zu sehen. Ich hatte jedenfalls nicht angezweifelt, dass Zlatan seinen Weg in dieser Welt finden würde, egal wie der Abgang aus dem Bildungssystem nun für ihn gelaufen war. So sehr ich mich über die Neuigkeiten für ihn freute, so sehr irritierte mich aber seine Feststellung, er sei nun ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob ich ihn an dieser Stelle fragte, inwieweit er bisher daran gezweifelt hatte, ein wertvolles Mitglied in der Gesellschaft zu sein, oder woher er diesen unsinnigen Gedanken hätte. Wie ich mich kenne, habe ich dies getan, aber dafür müsste ich wohl nachfragen. Woran ich mich aber erinnere, dass mich diese Aussage bis heute nicht mehr losließ. Immer wieder schob sich dieser Satz in mein Bewusstsein. Immer wieder versuchte ich, mir darüber klar zu werden, warum Menschen wohl so von sich dachten. Sind es die Aussagen, mit denen sie in Elternhaus, Schule und Gesellschaft oft konfrontiert werden? Wenn Du keine guten Noten, keinen (guten) Schulabschluss hast, dann bekommst Du keinen Job und endest als Kassierer bei Aldi, als Reinigungskraft, Bauarbeiter oder unter der Brücke! So oder so ähnliche Sätze haben wir wahrscheinlich alle das ein oder andere Mal in unserem Leben gehört. Lange habe ich das geglaubt. Lange habe ich auch geglaubt, dass all die Obdachlosen, die ich jeden Tag auf den Straßen dieses Landes sehe (und ich habe in diversen Städten gelebt), alle sicher keinen oder einen gaaaaanz miesen Abschluss haben. Warum sollten sie sonst auf der Straße leben. Doch ich habe mich geirrt. Da ist zum Beispiel Patrizia. Sie ist Obdachlos, abgemagert, heruntergekommen, mit einem Gebiss, dass einen Kieferorthopäden innerlich frohlocken lassen würde. Sie sieht fürchterlich aus, und dann und wann gibt es sogar böse Zusammenstöße mit Passanten oder Partygängern in der Hood (das Frankfurter Bahnhofsviertel). Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Sie könnte 30 sein oder auch 60. Ich bin ihr jahrelang aus dem Weg gegangen. Ich fand sie gruselig und sehr suspekt. Ihre Situation musste sie auf jeden Fall selbst verursacht haben. In unserem Land landet man ja nicht so einfach auf der Straße, wenn man was kann, einen Abschluss hat und sich nicht dem Alkohol oder den Drogen verschrieben hatte. So war das doch, oder? Und dann erfuhr ich ihre Geschichte. Sie hatte Familie – Mann und Kinder, war Anwältin. Sie hatte alles richtig gemacht. Ihre Familie verunglückte tödlich. Das hat sie psychisch nicht geschafft, rutschte ab und landete auf der Straße. Ob der Weg zurück für sie im Moment möglich wäre? – Keine Ahnung, doch das, was man mir über sozial-gesellschaftliche Versagertypen erzählt hatte, traf auf sie nicht zu. Auch nicht auf viele andere Menschen, die ich mittlerweile kenne, deren Leben am unteren Ende der sozialen Leiter endete. Sie alle hatten häufig eine gute Schulbildung und viele von ihnen gute Jobs. Fehlentscheidungen oder Schicksalsschläge ließen sie abstürzen. Warum es niemanden gab, der sie auffing, weiß ich nicht, doch wie schwer es ist, im Freundes- und Bekanntenkreis aufgefangen zu werden, das weiß ich wohl. Sowohl als Betroffene, als auch als Hilfeleistende, oder auch als Hilfeverweigernde – ja, auch ich habe mich dessen schuldig gemacht. Und auch wenn ich diesen Aspekt nicht kleinreden möchte, ist dies nicht der Fokus dieses Gedankenexperimentes. Er ist ein anderer. Man möge mir den kleinen Ausflug nicht übelnehmen. Vielleicht, gibt es dazu an einem anderen Punkt ein weiteres gedankliches Experiment.
An dieser Stelle möchte ich wieder auf Zlatan zurückkommen, und zu welcher Gedankenkette dieser Anruf bei mir führte. Wie ich eingangs schrieb, ist der Anruf etwa ein Jahr her. Vor Kurzem fiel mir dieser Anruf wieder ein, und wieder sinnierte ich über Zlatans Ausspruch über seinen Wert als Arbeitnehmer in dieser Gesellschaft. Wieder ließ es mich nicht in Ruhe, dass ein (junger) Mensch sich genötigt sieht, seinen Wert einzig und allein daran zu messen, dass er einer angesehenen, bezahlten Arbeit nachgeht. Man verstehe mich nicht falsch, eine Arbeit zu haben, die einem das Leben möglich macht, ist eine tolle Sache. Das verdiente Geld macht einen unabhängiger von staatlicher oder auch familiärer Gängelei, wenn auch nicht komplett frei von Zwängen (zumindest nicht dann, wenn das Einkommen im Durchschnittsbereich liegt). Aber die Arbeit, der Titel, der Kontoauszug sind doch nicht alles, was uns ausmacht, uns Wert verleiht. Sollte es zumindest nicht. Da gibt es doch auch noch andere Aspekte eines Menschen, die etwas bedeuten. Beim Nachdenken über diese Aspekte fiel mir ein Kinderbuch ein, das ich selbst schon als Kind geliebt hatte und welches eines der ersten Bücher war, die ich meinem Sohn vorlas. Bis heute liebe ich dieses Buch und habe es auch schon im Unterricht (Deutsch als Fremdsprache) mit Erwachsenen erfolgreich und mit Freude auf allen Seiten gelesen. Ich spreche von Frederick, ein Bilderbuch von Leo Lionni.
Für jene, die den Inhalt nicht kennen, möchte ich eine kurze Zusammenfassung geben. Für alle, die das Buch kennen: Ihr dürft den nächsten Absatz gern überspringen.
Frederick ist eine Maus, die mit ihrer Familie in einem verlassenen Kornspeicher wohnt. Während sich die ganze Mäusefamilie kurz vor Wintereinbruch geschäftig um die Vorräte für die kommende Zeit kümmert, scheint Frederick einfach nur faul herumzusitzen. Sie sprechen Frederick mehrere Male darauf an, warum er nicht arbeitete. Doch Frederick hat immer eine Antwort. Statt Essensvorräte zu sammeln, sammele er Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage, Farben, um den grauen Winter freundlicher zu gestalten, und Worte, da man an langen Wintertagen bald nicht mehr wisse, worüber man sprechen solle. Und Frederick sollte recht behalten, denn nachdem die Vorräte aufgebraucht sind, ziehen Kälte und Wortkargheit in der Familie ein. Bis sich die Mäuse an Fredericks Vorräte erinnern. Frederick beginnt nun, seine Schätze mit den übrigen Mäusen zu teilen. Und es funktioniert. Den Mäusen wird warm um die Herzen, in ihren Köpfen sehen sie Farben und als Frederick aus seinen gesammelten Worten ein Gedicht über die Jahreszeiten rezitiert, klatscht die Familie Beifall. Das Buch endet mit den Worten: „ „Frederick, du bist ja ein Dichter!“ Frederick wurde rot, verbeugte sich und sagte bescheiden: „Ich weiß es – ihr lieben Mausegesichter!““
Was ich an diesem Buch so liebe ist die Tatsache, dass es am Ende Frederick ist, der sich die höchste Anerkennung der Familie erwirbt, obwohl er scheinbar lange nichts für die Gemeinschaft beigetragen hat. Doch ist es nicht nur das, denn die Geschichte erkennt auch die Arbeit der anderen an. Jede Maus dieser Geschichte arbeitet. Während die einen mit physischer Arbeit beschäftigt sind, füllt Frederick seine Tage mit Geistigem. Keine Maus gerät darüber in Empörung. Anders als viele Menschen, die sich so oft über jene echauffieren, die angeblich dem Müßiggang frönen und sich durch vergeistigte oder künstlerische Tätigkeit mit angeblich brotloser Kunst abgeben. Solche Menschen werden häufig genug vom Rest der Gesellschaft belächelt oder sogar angefeindet. Heute gilt der Mensch nichts, wenn er nicht einem Beruf nachgeht, der ihm einen ordentlichen Packen Euros auf den Kontoauszug schafft. Da aber bestimmte Beschäftigungen, vor allem Kunst, Philosophie und Literatur, um nur einige zu nennen, lediglich einige Wenige wirklich reich machen, ist das Verfolgen solcher Tätigkeiten wenig empfehlenswert. Zu groß sei die Gefahr, ES nicht zu schaffen und am Ende als armer Schlucker, der oft genug auf Kosten der Gemeinschaft lebt, zu enden.
Auch die andere Seite gibt es. Da mokieren die, die einen eher unangepassten Lebensstil pflegen, sich abfällig über die Deppen, die noch für Geld malochen gehen. Wie blöd von ihnen, das korrupte und verkommene, miefige und biedere System zu unterstützen. Dabei wird übersehen, dass man ohne diese Arbeit der anderen seine eigene Lebensweise gar nicht ausführen könnte. Wer würde denn sonst das Brot herstellen, das man so bequem im Supermarkt kaufen kann ? Oder die Zahnpasta, mit der man sich die Zähne putzt? Und auch dies findet sich so nicht in Fredericks Familie. Auch er klagt seine Mit-Mäuse nicht an, fragt nicht, warum sie sich mit profanen Dingen wie dem Sammeln von Vorräten abmühen. Nein, er teilt ihnen mit, was er tut, ohne den Rest der Familie für ihren Instinkt der Vorsorge zu bewerten. Frederick weiß, dass seine Familie sich um das Überleben sorgt. Und so bemüht sich jeder auf seine Weise für eine Zeit der Entbehrung gerüstet zu sein. Jede Seite akzeptiert die andere – ohne Wertung. Nachfragen sind erlaubt, aber daneben lässt man den anderen sein, was er ist und tun, was er tut. Eine Familie frei von Diskriminierung. Und Frederick wird nicht ausgeschlossen solange die Vorräte, bei deren Beschaffung er nicht mitgeholfen hat, noch reichen. Ganz selbstverständlich wird hier geteilt. Und ganz selbstverständlich wird hier gezeigt, dass es mehr als materielle Arbeit gibt. Auch immaterielle Arbeit wird gesehen - geschätzt, und am Ende zahlt sich die Arbeit beider Seiten für alle aus.
Zlatan hat also vielleicht zu kurz gedacht, als er sich allein durch seinen geldbringenden Beruf als wertvolles Mitglied der Gesellschaft definierte. Zu kurz deshalb, weil er natürlich durch seine Arbeit dazu beiträgt, dass Dinge, an die wir uns in unserer Welt gewöhnt haben, auch weiter funktionieren. Wer würde denn den sonst den Gästen im Hotel den Sauvignon servieren? Andererseits, ist es nicht vielleicht viel wichtiger, dass Zlatan mit seinen Gästen in Gesprächen Gedanken austauscht? Welche Arbeit ist denn nun wertvoller? Das Servieren oder die freundlichen Hinwendung zu den Gästen, die sie als Menschen mit Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen und Träumen erkennt? Menschen, mit denen man Gedanken teilen kann. So wie Frederick, der am Ende doch auch nur teilte, was in seinen Gedanken entstanden war.
Wenn ich überlege, warum mir Frederick so sehr in Erinnerung geblieben ist, und warum ich letztlich dann auch bei Zlatans Anruf daran dachte, so glaube ich, dass ich, hätte ich die Wahl gehabt, mich am Ende auch für Fredericks Lebensentwurf entschieden hätte. Und ich glaube, viele hätten dies im tiefsten Inneren getan. So viele von uns wären glücklicher, wenn sie ihre Träume leben könnten, ihre Gedanken über die Welt unbewertet mitteilen dürften, nur um am Ende vielleicht festzustellen, dass sie eventuell doch Poeten, Schriftsteller, Musiker oder Maler sind. Aber wir leben nicht in einem Kinderbuch, und daher wenden wir uns von ‚brotloser‘ Kunst ab, sei es nun die Philosophie, die Literatur, die Kunst oder die Musik. Wir tauschen diese Dinge ein gegen einen gutbezahlten Job in der Bank, der Versicherung, dem Finanzamt. Im schlimmsten Fall gegen einen Job in irgendeiner Firma, der zwar Geld bringt, uns aber nicht wirklich glücklich macht. Und wer einen dieser begehrten Jobs nicht bekommen kann, aus welchen Gründen auch immer, sieht sich mit Aufgaben wie Kassieren, Müllentsorgung, Reinigungsjobs und der gleichen konfrontiert, die in unserer Gesellschaft so wenig wert sind, wie die Menschen, die sie erledigen. (Haben sie ja wahrscheinlich selbst verursacht, weil sie vielleicht in der Schule oder wo anders versagt haben. – so das Vorurteil. Denn wer würde schon freiwillig so etwas machen…) Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden. Alle diese Berufe sind, wie das Sammeln von Vorräten der Mäuse, keineswegs weniger wert. Doch auch andere Entwürfe des tätigen Lebens sollen von gleichem Wert sein. Und dies sehe ich in unserer Gesellschaft nicht. Wenn eine Tätigkeit nicht sofortige finanzielle Belohnung bringt, ist sie schon mal nicht wert, verfolgt zu werden. Und so fristen viele ihr Dasein im Wissen, dass sie für finanzielle Sicherheit und Anerkennung von außen auf ihre Träume verzichtet haben. Am Ende würden viele insgeheim aber dennoch gern Frederick sein.
Im Schatten des Krieges: Ukraine als Great-Reset-Labor der globalen Tech-Eliten . . .
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